Die entstellten Erben Novalis´- Ein Destruktionsversuch der Epoche der Romantik von Claudia Simone Dorchain
Sie ist schon beinahe eine lebende Legende der zeitgenössischen Philosophie: die wortmächtige, brilliante und schönste Philosophin der Zeit: Claudia Simone Dorchain. Ich verehre Ihre Arbeit sehr und sie hat in ihrem YT-Kanal philosophie-direkt jüngst zum dritten Advent, eine Einführung zu Novalis veröffentlicht, was mich sehr erfreute. Auch wenn sie es meiner Meinung nach in älteren Beiträgen schon etwas einfühlsamer nahelegen konnte, dass Novalis ein für die Gegenwart wichtiger und hochaktueller Philosoph ist, bespricht Sie in diesem Miniformat seine Philosophie und bietet durchaus spannende und interessante Interpretationsansätze seiner drei bekanntesten Werke: “Die Lehrlinge zu Sais”, “Die Hymnen an die Nacht” und “Die Christenheit oder Europa”. Drei herausragende Arbeiten verschiedener Genre, die meiner Meinung nach, ihrer Zeit vorraus waren. Vor zwei Monaten veröffentlichte Sie ein Video zum Thema Novalis nach dem Skript eines Vortrags, den sie offenbar am 3. Oktober 2023 in Dresden gehalten hatte - und grenzte sich dort, diesmal in einer ganz ungewohnten, fast schon proklamatischen Art, sehr vehement von der Epoche der Romantik ab. Sie nennt diese sogar “das Schlechteste, was die Deutsche Kultur je hervor gebracht hat.”* Gestutzt habe ich schon etwas, über diese harte Abrechnung mit dieser Epoche, da ich Frau Dorchain, durch ihre feinsinnige Ausdrucksart und umfassenden Kenntnisse besonders über die Mystiker zu schätzen gelernt hatte. Sie räumt aber den Ansätzen der Frühromantik besonders Novalis, neben vielleicht noch Fichte und Schlegel, durchaus eine Existenzberechtigung im Kreise der wichtigen Philosophen ein. Speziell Novalis, dem Sie noch wahrhafte Bestrebungen nach den plotinischen Ansätzen zugesteht - nimmt sie, als ein der Reife vorenthaltener Jüngling oder sogar Rebell, gegen die profane Vernunftsreligion der Aufklärung in Schutz. “Wäre die Romantik getreu auf dem Weg ihrer frühen Form geblieben, hätte sie weiter versucht in nach klassischer, humanistischer Manier neu platonisches zu denken- somit eine Einheitsmetaphysik zu erstellen, innerhalb einer immer komplexer werdenden Welt - hätte sie weiterhin geistreich und künstlerisch versucht der Aufklärung mit ihrem Allmachtsanspruch Paroli zu bieten und nicht zuletzt den Menschen in der psychisch die Würde zurückzugeben nicht bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet zu werden und sich permanent rechtfertigen zu müssen, gegenüber der profanen Religion der Vernunft - sie wäre eine Kur gewesen, gegeneinander auswirksam die uns heute noch beschäftigen, doch das war sie nicht.”* War sie es nicht oder fand da eine Übernahme oder Vereinnahmung statt und wurde damit bewußt oder unbewußt ad absurdum geführt? Ich stimme der treffenden Aussage Dorchains bis auf den letzten Satz zu, den ich in frage stellen möchte, denn wir betrachten diese Zeit als Geschichte, die Geschichte aber, wie wir sie heute wahrnehmen ist ein Konstrukt unserer Zeit. Auch wenn die idealstischen Denkansätze Novalis´ dann in der Romantik bis hin zum Kitsch entstellt wurden und damit das ohnehin schon Fragile tatsächlich in etwas umkippte, was Dorchain durchaus zurecht als gefährliches politisches Geschoss im Deckmäntelchen der Ästhetik bezeichnet, nennt sie uns - und schließt sich selbst da mit ein - die Erben Novalis, entstellt zwar, aber wir seien es. Wenn aber die Romantik das Schlechteste war, was die deutsche Kultur hervorgebracht hat, mit was bitte haben wir dann eigentlich heute aufzuwarten? Freiheit kann es nicht wirklich sein. Identitätslosigkeit als philosophischer Wert? Dazu fällt mir das Buch der Bildauerin Louise Borgeoises “Destruction of the father - reconstruction of the father” ein. Der Vater muss erst dekonstruiert werden, um wieder neu entworfen zu werden. Denn die durch die Selbstermächtigung gerissene Lücke muss, mit unter dem Esstisch geknetetem Brotkruhmen, neu verfüllt werden, - um nicht selbst einmal zum Täter zu werden, von dem man sich ja eigentlich befreien wollte. So fragt Bourgeois: „Da ich von meinem Vater zerstört wurde, warum zerstöre ich nicht auch ihn?“ - Es steckt viel Arbeit dahinter. Man muss Bildhauerin (oder auch Philosophin) werden, um diesen Kreislauf durchbrechen zu können. Ohne eigene Identität sind wir manipulierbar und verfallen nur all zu leicht der Fremdbestimmung. Wir laufen Gefahr durch die aufgerissene Leere des Raumes schwindelnd, sogleich wieder in die Arme des nächstbesten Manipulators zu fallen.
Das was Novalis wollte, war ganz sicher nicht der billige Abglanz einer äußerlichen Welt, den man vereinfacht Kitsch nennt - und gewiss auch nicht die reflexhafte Bejahung von allem was regelmäßig aufblinkert, wie der Reflex eines sabbernden pawlowschen Hundes - g.i.G. Er fordert uns zum steten Überprüfen des Gesehenen und Wahrgenommenen auf, verweist auf den Raum dahinter, auf das Dunkle und Unbeleuchtete, und - wie Dorchain vor kurzem noch selbst offerierte, den Weg des Mystikers zu beschreiten - strebt er zu einer ganzheitlichen Erfahrung und Wahrnehmung der Welt. Er war nicht nur ein hoch gebildeter Intellektueller, sondern auch ein herausrageder Wissenschaftler. Novalis wäre sicher nicht auf die immer mehr umsich greifende konditionierende “Hundepsychologie” unserer Zeit hereingefallen, - und würde er noch leben - hätte er seinen Forschergeist gewiss nicht von Denkverboten beschränken lassen. Dorchains vehemente Absage gegen die Romantik, lässt mich vermuten, dass auch sie bereits ins Kreuzfeuer von Meinungsmachern auf immer enger werdenden Denkkorridoren geraten ist. Novalis rät jedenfalls ab, sich vom Schattenreich der Aussenwelt beeindrucken zu lassen, denn: “Nach innen führt der geheimnisvolle Weg.” (Novalis)
Ich möchte Frau Dorchains Verordnung die Romantik zu vergessen noch eines anfügen: Vergesst von mir aus die Romantik - aber setzt Novalis nicht einfach mit dieser gescheiterten Kulturepoche gleich. Seine Ideen und Denkansätzen sind für die heutige Zeit von unschätzbaren, nahezu prophetischem Wert und sollten unbedingt von den Heutigen entdeckt und immer wieder neu durchdacht werden.
*zit. aus dem Vortrag: "Deutsche, vergesst die Romantik!" zum Nationalfeiertag am 03.10.2023, gehalten im Wagnersalon Dresden (Deutsche Dichter und Denker der Romantik, Vorbilder oder Verführer? Die Romantik selbst, Schoßkind oder Sorgenkind der deutschen Ideengeschichte?)
Entdecke Novalis als Philosoph! Die Mystik eines Dichters (Claudia Simone Dorchain - Der philosophische Salon)
Die Philosophie von Novalis: Hymnen an die Nacht 2/2 (Claudia Simone Dorchain - Der philosophische Salon)
Die Philosophie von Novalis: Die Christenheit oder Europa 1/2 (Claudia Simone Dorchain - Der philosophische Salon)